An diesem Montag, der 04.06.2007, ging ich nicht wie gewohnt nach der Arbeit im Villa Fiorito nach Hause. Ich setzte mich an die dem Projekt gegenüberliegende Straßenseite und wartete auf meine ungewöhnliche Verabredung.
Denn heute werde ich mich an dieser Kreuzung mit Chucky treffen. Chucky ist eines meiner Projektkinder im casa de joven (Jugendhaus) von Che Pibe. Er ist 16 Jahre alt, hat erst letztes Jahr die fünfstufige Primaria (erste Schulstufe in Argentinien) abgeschlossen und besucht nun die Secundaria (letzte, siebenstufige Schulstufe in Argentinien). Auf mich macht er einen sehr vernünftigen Eindruck, er ist clever und hat eigene Vorstellungen für seine Zukunft: ich will mit meiner Freundin zusammenziehen und mein eigenes Zimmer mit allem was man braucht ausstatten.
Um sich diesen Traum zu verwirklichen, wird Chucky noch viel Geld sparen müssen. Denn das Arbeitsangebot ist, in so einem marginalisierten Armutsviertel, wie es Villa Fiorito darstellt, nicht besonders groß. Deswegen arbeiten viele Jungen und Alten in einem Sektor, der in Deutschland völlig unbekannt ist: sie sind cartoneros.
Da es in Argentinien kein Recyclingsystem gibt, werden Papier, Plastik, Karton und Glas zusammen in den Abfall geschmissen. Und genau diese kostbaren, wieder verwertbaren Rohstoffe sammeln die Cartoneros im Müll des Capital Federal von Buenos Aires, um es dann später verkaufen zu können. Sozusagen, tröpfeln einige Pesos von dem Müll der Reichen in die Hände des Armenheeres, das um die Großstadt herum in Ghettos lebt.
Und auch Chucky verdient sich sein tägliches Brot mit dieser Form des Arbeitens. Aber eigentlich könnte man annehmen, dass Chucky ein ganz normaler Junge ist, der in die Schule geht und lediglich seine Jugend genießen will. Als er die Straße hinaufgelaufen kam, erkannt ich ihn schon von weiten an seiner Kleidung: seine Baseballcap tief ins Gesicht gezogen, weite lässige Jeans und dazu trug er ein Nike T-Shirt. Nur die Umgebung um ihm herum, trügte das Bild des ganz normalen Jungen: alles im Viertel Fiorito ist voller Müll, die Häuser an der Erdstraße sind in einem sehr schlechten Zustand und vor diesen läuft die Kloake durch schmalen Rinnen ab.
„Gleich geht’s los. Ich habe den Karren schon auf den LKW geladen.“, begrüßte er mich mit einen freundlichen Handschlag. Kurze Zeit später hörte man schon den alten Diesellastwagen von weitem herankommen. „Los Mochos“ heißt er, erklärte mir Chucky. Dann konnte ich ihn auch sehen: es waren circa dreißig andere Cartoneros darauf. Viele saßen weit über der Straße, auf den Seitenwänden der Ladefläche des LKWs.
Irgendwie hatte ich bei den Gedanken, auf diesen LKW mitzufahren, kein sehr gutes Gefühl. Aber ich hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn Chucky drängte mich schon dazu aufzusteigen. Als ich endlich oben war, verschwand dieses Gefühl einfach nicht. Ich dachte mir, das ist nicht meine Welt und schaute mich um: ein zwölfjähriges Mädchen, ein kleiner achtjähriger Junge mit seinem Vater, ein junges Liebespaar, das sich vor den Wind schützend eng zusammen kuschelte, ein alter Mann mit schiefen, schwarzen Zähnen und viele andere junge Leute. Und mittendrin ein Bamberger, der im Vergleich zu diesen Leuten wohl steinreich sein muss. „Hier gehöre ich nicht her, das ist nicht meine Welt“, dachte ich mir wieder, wurde aber schon gleich darauf von dem zwölfjährigen Mädchen angesprochen.
Nun ging die fünfzigminütige Fahrt durch das Ghetto auf kaputten Straßen, vorbei an Müllhaufen und Blechbaracken, in die Richtung des Capital los. Dort angekommen trafen zwei Welten aufeinander: auf den Straßen fuhren schicke Autos, auf den Gehsteigen liefen Männer in Anzügen und die riesigen, modernen Gebäude warfen ihre langen Schatten auf den Lastwagen der Cartoneros. Irgendwie schon ein komisches Gefühl all diesen Reichtum zu sehen, wenn man sich unter Armen befindet. „Was denken sie, wie fühlen sie sich?“, fragte ich mich immer und immer wieder.
Endlich waren wir am Ziel. Wir stiegen ab, luden den Karren mit zwei großen Säcken (jeweils ein Kubikmeter Inhalt) vom großen LKW und dann ging es auch schon los. Aufgrund der Größe des Karrens mussten wir immer am Straßenrand laufen, was extrem gefährlich beim starken Verkehr in Buenos Aires ist. Oft kommt es vor, dass die Autos am Karren und auch an Chucky in einem sehr geringen Abstand vorbeifahren.
Chucky erklärt mir, dass wir jetzt seine normale Route ablaufen. Die Leute hier kennen mich schon und halten den Müll für mich bereit, erklärte er mir. An der ersten Straßenecke warteten auch schon die ersten schwarzen Müllbeutel darauf geöffnet zu werden. Zuerst schaut ich Chucky zu und ließ mir erklären, was alles verwertbar sei: Karton, Glas- und Plastikflaschen, Shampoo- und andere Plastikgefäße, Dosen, Zeitungs- und weißes Papier. Was Chucky nicht sammelt sind: Konservendosen, Spraydosen und schon recyceltes Papier – das bringt zu wenig Geld ein, meinte er.
Nach einer Zeit gewöhnt man sich daran Müllbeutel aufzureißen und darin herumzusuchen, auch wenn immer ein gewisses Eckelgefühl bleibt, wenn man zum Beispiel Babywindel oder Essensreste in der Hand hält. Langsam lernte ich die verschiedenen Müllbeutel nach ihren Wert zu schätzen: in Küchenbeutel sind meistens nur Essensabfälle und somit lohnt es sich überhaupt nicht sie aufzumachen. In Bürozimmerbeutel gibt es aber meistens immer weißes Papier, was ja gesammelt wird. Auch entwickelt man nach und nach ein Gefühl für den Müll: hier ist eine Plastikflasche, da eine Zeitung und dort ein Plastikgefäß.
Allen verwertbaren Müll wird in den riesigen Beutel auf den Karren geladen. Den richtigen Müll wird in die Müllsäcke zurückgegeben und wieder sauber an ihren Platz abgestellt. Vielleicht darf Chucky deswegen den Müll von den großen Mietshäusern durchsuchen, weil er so sauber arbeitet, dachte ich mir.
Denn so wie Chucky gesagt hatte, warteten die Portiere der Wohnblocks schon auf ihm, um ihm den Müll abholen zu lassen. Chucky grüßt sie freundlich, schleppt darauf die großen Beutel heraus und trägt sie zur nächsten Kreuzung um diese zu inspizieren. Durch dieses Abkommen mit den Portiers, läuft Chucky nicht Gefahr, dass ihm andere cartoneros zuvor kommen und ihn die wertvollen Schätze klauen.
So zogen wir nun von Haus zu Haus, von Müllbeutel zu Müllbeutel und luden ständig die gefundenen, wertvollen Sachen auf unseren Karren, bis beide Beutel komplett voll waren. Dann zogen wir mit Karren und gesammelten Müll zurück zum Lastwagen, aber nicht ohne die Gelegenheit zu verpassen, bei einem Kiosquo anzuhalten, um sich die Hände zu waschen, eine Cola zu trinken und ein Sandwich zu Essen. Chucky lud selbstverständlicherweise ein.
Für mich war es eine komische Situation, dass ich im Müll wühle und die anderen Leute an mir vorbeilaufen. Normalerweise sehe ich die Szene genau aus der anderen Perspektive. Nun fragte ich mich aber, was sich die Leute denken, wie sie sich fühlen, in welchem Licht sie mich sehen. Ich zumindest bin jedes Mal peinlich berührt, wenn ich cartoneros auf den Straßen von Buenos Aires sehe. Aber ich glaube für die Portenos (Einwohner von Buenos Aires) ist das so ein normaler Anblick, dass sie einfach weg schauen und sich keine Gedanken darüber machen wollen.
Eine Szene fand ich sehr bedrückend. Ein langsam vorbeifahrendes Auto warf eine leergetrunkene Plastikflasche direkt vor die Füße von Chucky und der Fahrer hatte dabei ein breites Grinsen im Gesicht. Chucky bedankte sich höflich und nahm die Flasche. Ich finde, dass man den Cartoneros auch mit Respekt entgegentreten muss
Für mich war dieser erste Tag eine wichtige Erfahrung; ich bin in eine Welt eingedrungen, die ich bisher nicht kannte, und wohl auch nicht für einen „reichen“ Deutschen geschaffen ist. Nun kann ich vielleicht einige meiner Projektkinder besser verstehen.
Ich bin schon gespannt auf die nächsten Tage.